Ein Teleskop hat mich in den letzten Wochen in seinen Bann gezogen. Kein gewöhnliches Teleskop; sondern das „James Webb Space Teleskop“, das die amerikanische NASA, die europäische ESA, und die Canadian Space Agency CSA am 2. Weihnachtstag mit einer Ariane 5 Rakete präzise ins All abfeuerten. Während ich diese Glosse verfasse, driftet Webb auf den „Langrange Punkt 2“ zu. Der Punkt ist viermal weiter von der Erde entfernt als der Mond. Einmal angekommen, wird es in den nächsten 10 oder mehr Jahren antriebslos mit der Erde um die Sonne kreisen und im Erdschatten die Tiefen des Weltalls mit ungeahnten Möglichkeiten beobachten. James Webb hat natürlich seinen Preis: 10 Milliarden US-Dollar. Sofort fragte ich mich: was bringt die Nationen dazu, diese gewaltige Summe für ein rein Neugier-getriebenes Grundlagenprojekt zu investieren? Werfen wir also einen kurzen Blick in das Projekt.
Allein die Technologie an Bord ist faszinierend: auf der Rückseite eines riesigen lichtabschirmenden Schutzschildes werden vier superempfindliche Spektrometer Licht im Nah- bis mittleren Infrarotbereich messen. Ein goldbeschichtetes Spiegelteleskop mit 6m Durchmesser besteht ganz aus Beryllium, dessen geringes Gewicht die Nutzlast minimiert hat und dessen geringer Wärmeausdehnungskoeffizient die optische Stabilität des Spiegels garantiert. Die Anlage muss in der Kälte des Weltraums unter ständigem Beschuss durch Sonnenwind und Mikrometeorite funktionieren, was u.A. durch einen 20m langen Schutzschirm gewährleistet wird. Die riesige Anlage wurde in den Kopf der Rakete auf 4 Meter Breite verpackt und entfaltete sich auf dem Weg in das All Schritt für Schritt, kontrolliert durch hunderte von Sensoren. Geht von 344 potenziellen „Points of Failure“ nur einer schief, könnte die ganze Mission als Weltraumschrott enden. Denn eine Reparaturmission in 1.5 Mio. km Entfernung ist unmöglich. Doch die NASA hat (bisher, also Mitte Januar) die Entfaltung des Teleskops wie ein präzises Uhrwerk gemeistert. Angesichts der bisweilen defektanfälligen analytischen Instrumente in unserem irdischen Geochemielabor kommt hier schon ein wenig Neid auf.
Noch atemberaubender sind natürlich die wissenschaftlichen Fragen. Da sich das Universum seit dem Urknall vor 13.8 Milliarden Jahren ausdehnt, kommt das Licht aus seiner Geburt erst jetzt bei uns an. Durch die Ausdehnung des Universums ist das Licht in den Infrarotbereich verschoben, so dass es kosmischen Staub und Gas auf dem Weg zu uns durchdringt. Wir werden also einen Blick in das Universum ein paar hunderttausend Jahre nach dem Big Bang werfen können; lange bevor es unser Planetensystem überhaupt gab. Auf welche Fragen erwarten wir Antworten? Es geht um die Bildung der ersten Sterne aus der Ursuppe von Protonen, wann entstanden die ersten Galaxien und schwarze Löcher, und wann kamen die schweren Elemente dazu. Die Infrarotkameras können weit detailliertere Abbildungen von Exo-Planetensystemen und kosmischen Staubwolken, ihren Vorläufern, abbilden, und so können wir unsere Hypothesen zur Planetenakkretion überprüfen – alles Fragen, die wir auch in unseren Vorlesungen zur Element- und Planetenentstehung aufwerfen. Mit dem in Europa gebauten Mid-Infrared Instrument (MIRI) soll die mineralogische Zusammensetzung des Inneren von „geschredderten“ Exoplaneten gemessen werden, und so werden wir die Zusammensetzung von deren Kern, Mantel und Kruste erhalten – Daten, die wir nicht einmal von der Erde genau kennen.
Auch ein Blick in die Öffentlichkeitsarbeit von NASA [1] und ESA [2] lohnt sich. Mit wunderbaren Graphiken und Animationen haben wir die Entfaltung des Teleskops „live“ miterleben können. Die komplizierte Technologie wurde in einfacher Sprache und in Fact Sheets leicht zugänglich erklärt. Die Erläuterungen von Urknall, der Ausdehnung des Universums, oder wie das Licht aus der Atmosphäre von Exoplaneten deren chemische Zusammensetzung verrät gleichem einem Crashkurs in Naturwissenschaften und Technik, wie ihn Wochen von Schulunterreicht nicht besser liefern könnten. Ich wäre überrascht, wenn nicht viele junge Menschen durch diese geballte Ladung an Exposition auf die grundsätzlichsten Fragen unseres Ursprungs ihren Weg in die Naturwissenschaften finden würden.
Dieses Erlebnis hat sicher nicht nur mich zu der Frage verleitet: können wir dies auch? Können wir uns, als Mineralogen oder Geowissenschaftlerinnen, solch große, Faszination anregende Forschungsvorhaben vorstellen? Oder sind wir zu klein? Ist die Erde auserforscht, also keine „Terra Incognita“ verbleibt? Ist dies zu teuer? Brauchen wir solche großen, integrierten Vorhaben angesichts des speziellen Charakters unserer Themen und Methoden nicht? ODER aber haben gerade wir, die wir die Erde und mit ihr unsere Lebensgrundlage erforschen, nicht das gewaltigste Forschungsobjekt direkt vor uns. Ein Objekt, von dem wir das Innere kaum kennen, und das auf imposante Forschungs-Anstrengungen nur wartet?
Ja, 10 Milliarden Dollar sind eine gewaltige Summe. Aber auch bei uns fördert die öffentliche Hand gerne größere Investitionen in die Geowissenschaften, so sie neue Erkenntnisse versprechen, Faszination ausstrahlen und überzeugend begründet werden. Die MOSAiC Arktis Mission der Polarstern hat 140 Mio. EUR gekostet. Das kontinentale Tiefbohrprogramm der 1990-er Jahre, das letzte ganz große Vorhaben der Geowissenschaften der festen Erde, kostete ca. 270 Mio. Euro. Der deutsche Anteil der geplanten neuen deutsch-amerikanischen GRACE-I Schwerefeldsatelliten wird ca. 150 bis 200 Mio. EUR betragen, und das neue Geo- und Umweltzentrum der Universität Tübingen hat 83 Mio Euro gekostet. Ein gewaltig teures Megaprojekt haben die Geowissenschaften bereits vor sich: die Suche und Bau eines Endlagers für abgebrannte Kernbrennstoffe. Kostenfaktor: ca. 50 Milliarden Euro. Nehmen wir doch einfach mal an, es gäbe solche Fördermöglichkeiten; einfach als Gedankenübung.
Welches unmögliche Megaprojekt würden wir uns „erträumen“? Eine informelle, kleine Umfrage im DMG-Umfeld und weiteren Geo-Disziplinen ergab ganz spontan eine Menge Ideen: eine Tiefbohrung durch die gesamte Ozeankruste, um deren Struktur und Zusammensetzung endlich abzuklären? Oder gleich mehrere davon, um die räumliche Variabilität abzubilden? Eine Nanometersonde, die neben chemischer Zusammensetzung feinster Festkörper in Gestein, Böden, Sediment oder biogenen Partikeln auch deren Elementspeziierung, Ladungsdichte, Struktur, und vielleicht sogar einige Isotopenverhältnisse in großer Zahl ermittelt? Zwei Größenordnungen bessere Nachweisgrenzen und Präzision der (über)nächsten Generation Massenspektrometer würde uns einzigartige Möglichkeiten für z.B. die Detektion erloschener Nuklide oder aquatische Geochemie ermöglichen. Wie wäre es mit Sample Return Missionen nicht nur vom Mars, sondern vom Asteroidengürtel, Venus, Merkur und den Jupitermoden für ein komplett neues Bild des Sonnensystems und der Planetenentstehung? Brauchen wir Rechner, die um Größenordnungen leistungsfähiger als die heutigen Hochleistungsrechner sind, ggf. unterstützt mit künstlicher Intelligenz für die geplante „Twin Earth“ Initiative, also die Abbildung eines digitalen Zwillings der Erde? Bisher soll dieser Zwilling vor allem den Klimawandel, die Ozeane, die Kryo- und Biosphäre und Interaktionen mit den Menschen simulieren [3]. Erweiterte man den Zwilling auf die gesamte Erde, könnte man ihn mit intelligenten Algorithmen und Daten aus Mineralphysik, Geochemie, Geodynamik, Geophysik etc. zu einem realistischen Modell der Erde verbinden. Brauchen wir eine „Materials Genome Initiative“ [4] , um mittels Simulations-, experiment- und Dateninfrastrukturen bessere und Ressourcen-effizientere Materialien für die Energiewende oder das Gesundheitssystem zu entwickeln? Jenseits der Mineralogie und Geochemie: wie wäre es mit einem Dutzend Radar-Satelliten, die Bewegungen auf der Erde vermessen – als Frühwarnsystem, und um tektonischen Strain und exogene Massenumlagerungen in Realzeit abzubilden. An der Landoberfläche könnten uns nicht eine große Zahl automatisierter „Critical Zone“ Observatorien [5] in Echtzeit die Auswirkungen des globalen Wandels auf kombinierte Geo-, Hydro- und Biosysteme liefern? Wollen wir ein Inventar sämtlichen mikrobiellen Lebens und dessen metabolischem Potential in allen Habitaten der Erde durchführen, sollten wir ein weltweites Meta-Genom-Programm entwerfen. Aufwändiger wird es, wenn wir auch die Aktivität und den ablaufenden Stoffwechsel der gefundenen Mikroorganismengemeinschaften mittels Transkriptomik und Proteomik ermitteln wollen. Mikrobiell induzierte Änderungen im Erdsystem, wie Methan-Freisetzung in der Arktis oder Bodenbildung in ehemals ariden Gebieten können so prognostiziert werden. Und schließlich könnte nicht die Aufgabe, jährlich ein Dutzend Milliarden Tonnen klimaschädlichen Überschusses an CO2 aus der Atmosphäre durch naturnahe Entnahmeverfahren sowie geologische CO2 Speicherung zu entziehen das nächste geowissenschaftliche Mega-Projekt sein?
Klar, viele dieser Ideen sind Träume und werden es bleiben, einige sind evtl. nicht machbar, und wieder viele weitere fehlen. Zwei Dinge aber fallen auf. Erstens haben wir ganz offensichtlich weder einen Mangel an Ideen und Bedarf für inspirierende Visionen. Zweitens sind fast alle hier erwähnten Projekte integrativ; d.h. können nur gemeinsam mit den anderen Geowissenschaften oder den Boden- und Umweltwissenschaften, der Chemie, den IT-Disziplinen, der Astronomie, oder den Ingenieuren realisiert werden. Nehmen wir das Potenzial für Öffentlichkeitsarbeit hinzu und die Möglichkeit, eine junge Generation für unsere Disziplinen zu faszinieren – was spricht dagegen, zu träumen, oder – noch besser- die Umsetzung zu wagen? Wir müssen nicht mal an den Anfang des Universums reisen, um aus unseren Disziplinen heraus ähnlich wie „James Webb“ zu faszinieren, auf, in, oder in der Nähe der Erde. Denken wir doch ruhig einmal ganz groß über unser Metier nach.
Friedhelm von Blanckenburg
DMG Vorsitzender
[2] www.esa.int/Science_Exploration/Space_Science/Webb
[3] digital-strategy.ec.europa.eu/en/policies/destination-earth
[4] www.mgi.gov
[5] https://czo-archive.criticalzone.org/national/research/the-critical-zone-1national/; https://www.tereno.net