Liebe DMG-Mitglieder,
im September 2022 in Köln beauftragte die Mitgliederversammlung „den Vorstand der DMG innerhalb des Dachverbandes der Geowissenschaften die Entwicklung einer gemeinsamen geowissenschaftlichen Gesellschaft weiter zu verfolgen“. Die genaue Ausgestaltung einer solchen großen Geogesellschaft in Deutschland obliegt nun den Vorständen und Vertretern der vier größeren Einzelgesellschaften (PalGes, DMG, DGG und DGGV), die hierbei die unterschiedlichen Bedürfnisse und Vorstellungen aus diesen Einzelgesellschaften berücksichtigen müssen. In dem Auftrag, den der DMG-Vorstand erhielt, heißt es beispielsweise, „dafür Sorge zu tragen, dass die Interessen aller mineralogischen Teildisziplinen, insbesondere der Kristallographie und der angewandten Mineralogie in vollem Umfang berücksichtigt werden“ – so lautete wörtlich der im September abgestimmte Beschluss. In den anderen Einzelgesellschaften gibt es ähnliche Aufträge an die Vorstände und die Details der zukünftigen Zusammenarbeit gilt es nun auszuhandeln und gemeinsam auszugestalten.
Eine immer wieder geäußerte Sorge in Teilen der DMG, wie auch unter einzelnen Mitgliedern der anderen Einzelgesellschaften, ist die Sorge nach einem möglichen Verlust von „Sichtbarkeit“ und „Identität“ bestimmter Disziplinen, der mit der Schaffung einer großen, schlagkräftigen Geogesellschaft einhergehen könnte. Diese Furcht vor Bedeutungsverlust durch Stärkung mag im ersten Augenblick paradox erscheinen, lässt sich aber vielleicht durch eine Beleuchtung der unterschiedlichen Blickwinkel, die hier zugrunde liegen, aufklären. Von der Gründung der großen Geogesellschaft versprechen wir uns eine gesamtgesellschaftliche Stärkung der Bedeutung der Geowissenschaften und eine deutliche Verbesserung der Vernetzung im Inneren; die Befürchtungen beziehen sich auf eine Schwächung der Bedeutung einzelner Subdisziplinen innerhalb der Gesellschaft, wenn diese nicht mehr als Einzelverein auftritt, sondern als Sektion eines Gesamtvereins.
Unbestritten ist wohl der Zugewinn an Bedeutung der Geowissenschaften und an politischem Einfluss innerhalb der deutschen Öffentlichkeit, der schon jetzt durch die zahlreichen Aktivitäten des DVGeo spürbar wird. Das Auftreten des DVGeo als Vertretung von über 6.000 deutschen Geowissenschaftlerinnen und Geowissenschaftlern hat eben deutlich mehr Gewicht, als wenn Vertreter aus den Einzelgesellschaften versuchen, sich zu Wort zu melden. Beispiele für den wachsenden Einfluss sind die parlamentarischen Abende des DVGeo in Berlin oder die Treffen mit den Vertretern der anderen MINT-Fächer im Zusammenhang mit Lehrplangestaltungen in den Schulen. Das selbst für uns schwer zu überblickende und für Außenstehende vollkommen undurchsichtige Sammelsurium von mehr als 25 geowissenschaftlichen Fachgesellschaften in Deutschland führte in der Vergangenheit gerade zu dem Mangel an Sichtbarkeit, aus dem wir uns jetzt zu befreien suchen.
Wer über Sichtbarkeit seiner Teildisziplin spricht, sollte auch immer dazusagen, von wem er gesehen werden möchte. Ist es erstrebenswert, einen gewichtigen Anteil an einer kleinen Spezialgesellschaft auszumachen? Oder ist es nicht besser, ein – wenn auch kleiner, so doch konstruktiver – Teil einer großen und starken Geogesellschaft zu sein? Vielleicht lehnen Sie diese Ansicht auch ab und präferieren die gegenwärtigen Kleingesellschaften; vielleicht sind Sie der Ansicht, dass eine Disziplin dann 56 GMIT 93 · September 2023 | Geolobby Deutsche Mineralogische Gesellschaft (DMG) am besten vertreten werden kann, wenn sie eigenständig und losgelöst von den Nachbardisziplinen vertreten wird. In diesem Fall möchte ich Sie fragen, inwiefern die Existenz der gegenwärtig vorhandenen Gesellschaften zu befürworten ist? Wäre es dann nicht besser, beispielsweise die DMG aufzuteilen in mehrere eigenständige Gesellschaften, um so den Teildisziplinen eine noch bessere Sichtbarkeit und Identität zu verschaffen? Man sollte nach dieser Logik eine eigene Gesellschaft für Geochemie gründen, eine Gesellschaft für Angewandte Mineralogie, eine Gesellschaft für Archäometrie, eine Gesellschaft für Petrologie, und so weiter; oder besser noch getrennte Gesellschaften für Magmatische und Metamorphe Petrologie! Man könnte die deutsche Geolandschaft mit 125 statt der bisher 25 Gesellschaften zupflastern. Tatsache ist, dass die gegenwärtig vorhandenen Disziplingrenzen mit zusammengefassten oder zersplitterten Subdisziplinen allein irgendwelchen historischen Zufälligkeiten zu verdanken sind und keinem durchdachten Plan entspringen. Der Ist-Zustand ist keinesfalls der Optimal-Zustand, aber er wird durch die Trägheit des Systems erhalten.
Ein einfaches Beispiel für die Unzulänglichkeiten, die den gegenwärtigen Geogesellschaften anhängen, bietet ein Blick auf unseren Nachwuchs. An den deutschen Universitäten hat seit einiger Zeit der Abschluss „Geowissenschaften“ die früheren Abschlüsse in den Teildisziplinen abgelöst. Infolgedessen identifizieren sich die Studierenden als Geowissenschaftler*innen. Mit fortschreitendem Studium entwickeln sie Spezialinteressen und Vorlieben für bestimmte Schwerpunkte, wie beispielweise der Mineralogie oder auch der Lagerstättenkunde. Sie haben aber kein Interesse daran, sich von ihren Kommilitoninnen und Kommilitonen mit dem Schwerpunkt, sagen wir mal, Seismologie oder Wirbeltierpaläontologie sichtbar abzugrenzen und dadurch eine gesonderte Identität auszuleben. Stattdessen bleiben sie Geowissenschaftler* innen und zögern gerade deshalb, in eine der bestehenden Fachgesellschaften einzutreten. Sie möchten sich mit der Wahl einer Fachgesellschaft nicht auf eine bestimmte Subdisziplin der Geowissenschaften festlegen, sondern wünschen sich den Beitritt in eine einheitliche, große Geogesellschaft, die ihre und die Interessen all ihrer Kommilitoninnen und Kommilitonen vertritt.
Laut Statistischem Bundesamt gibt es in Deutschland etwa 15.000 Studierende in den Bachelor- und Masterstudiengängen der Geowissenschaften (ohne Geographie) sowie etwa 3.000 Promovierende (DEStatis, Wintersemester 2021/22). In den vier Mitgliedsgesellschaften des DVGeo gibt es jedoch insgesamt nur etwa 600 bis 650 studierende oder promovierende Mitglieder. Das heißt also, dass sich nur etwa 3,5 % des geowissenschaftlichen Nachwuchses dazu entscheidet, in eine der Fachgesellschaften einzutreten. Mehr als 96 % der Studierenden fühlen sich von den Teilgesellschaften nicht angesprochen oder wollen sich nicht für eine der Teilgesellschaften entscheiden. Hier geht uns ein großes Potential verloren! Ich plädiere deshalb für die Einrichtung der Möglichkeit der persönlichen Mitgliedschaft im DVGeo. Solange es noch keine einheitliche große Geogesellschaft gibt, könnte damit sofort eine Mehrheit der Studierenden in den Geowissenschaften erreicht werden.
Mit der finanziellen und ideellen Stärkung des DVGeo und der Übertragung weiterer Kompetenzen aus den Teilgesellschaften auf den Dachverband können wir die Sichtbarkeit der Geowissenschaften, und damit auch der Mineralogie, weiter erhöhen. Wir können damit weitere wichtige Schritte in Richtung einer Zukunft unternehmen, in der eine große Anzahl an Herausforderungen auf die Menschheit wartet, die ohne den Beitrag der Geowissenschaften nicht gemeistert werden können. „Ich glaube, Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren“, sagte Michael Gorbatschow im Oktober 1989 in Ost-Berlin. In diesem Satz steckt natürlich eine Warnung; zugleich weist er aber auch auf die Möglichkeit hin, wichtige Veränderungen aktiv gestalten zu können, wenn man sie rechtzeitig angeht.
— Euer/Ihr Horst Marschall