Blick zurück

I. Die Zeit um 1990

 

Vorbemerkung Während in diesen Monaten die Massenmedien umfangreiche Rückblicke auf die politischen Aspekte der Wende 1989/90 in Deutschland veröffentlichen und dabei kritischen Journalismus meist mit Unterstützung der Gegner der Vereinigung gleichsetzen zu müssen glauben, dringen kaum Berichte zur Entwicklung der deutschen Wissenschaftslandschaft in das Bewusstsein der Öffentlichkeit, vielleicht gerade weil hier Negativbilanzen besonders schwer fallen. Daher scheint es mir im Interesse einer ausgewogenen Bewertung des Gesamtprozesses der Vereinigung zu liegen, wenn der Versuch unternommen wird, dieses Defizit wenigstens unter Fachkollegen zu beheben. Es kann sich dabei naturgemäß nur um subjektive und schlaglichtartige Erfahrungen zu der Frage nach den Folgen einer wirtschaftlich und politisch getriebenen Umwälzung handeln, die allerdings – wenn nur hinreichend viele Leser beizutragen sich bereit fänden – ein brauchbares Gesamtbild liefern sollten.

Betrachtet man beispielsweise einmal die Lage der Naturwissenschaftler an den DDR-Hochschulen vor 1989, dann lassen sich folgende Beispiele systemimmanenter Benachteiligungen gegenüber den Fachkollegen in den alten Bundesländern ausmachen, die von der Mehrheit der Betroffenen (sog. ‚schweigende Mehrheit‘) auch als solche empfunden wurden und die einen Teil der treibenden Kräfte des Gesamtprozesses ausmachten:

1.) Massive Behinderungen des wissenschaftlichen Gedankenaustauschs über den Eisernen Vorhang hinweg zum Nachteil der ostdeutschen Wissenschaftler (Reisebe-schränkungen bei Kongress- und Studienreisen; Beschränkungen des schriftlichen Gedankenaustauschs sowohl über private als auch über dienstliche Kanäle; Einschränkung der Veröffentlichungsgenehmigungen in Fachzeitschriften des Westens; Beschränkungen der Beteiligung an internationalen Forschungsvorhaben) als Folge des politischen Anspruchs totaler Kontrolle des Denkens (siehe Orwells ‚Ministerium für Wahrheit‘);

2.) Ungenügende Versorgung mit den notwendigen modernen Hilfsmitteln der Forschung (Geräte, Verbrauchsmaterial, Fachliteratur, Software, Kommunikationsmittel) als Folge der Insuffizienz staatseigener Betriebe und politisch begründeter Nichtkonvertierbarkeit der DDR-Währung;

3.) Massive Benachteiligung politisch nicht angepasster Nachwuchswissenschaftler in Bezug auf eine Hochschulkarriere aus Angst vor der Multiplikatorwirkung von Hochschullehrkräften zum persönlichen Nachteil der Betroffenen und zum Nachteil einer leistungsfähigen Forschung;

4.) Starke Reglementierung aller Diskussionen über nichtfachliche Fragen und damit zugleich zunehmende Dämpfung der Diskussionsbereitschaft mit fachlichem Bezug.

Die geistige Urheberschaft – soweit nicht aus sowjetischen Quellen geschöpft – und das Instrument der Durchsetzung aller Maßnahmen haben einen Namen: SED.

 

Die Zeit um 1990 Durch den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik 1990 haben nun
diese Benachteiligungen (die durchaus lokal unterschiedliches Ausmaß aufwiesen) ihre Grundlage verloren. Punkt 1 wirkte allerdings in den vergangenen zehn Jahren mit abnehmender Tendenz noch in der älteren Generation dadurch nach, dass deren Chancen im Wettbewerb um Arbeitsplätze wegen der jahrzehntelangen Isolierung von fortgeschrittener Technologie teilweise erheblich gemindert waren. Hinzu kam die mit der inhaltlichen und personellen Kompletterneuerung der Hochschulen (alle Stellen wurden neu gewidmet und ausgeschrieben) einhergehende schmerzliche Stellenreduzierung. In puncto 2 bis 4 sind die Nachwirkungen in der Folgezeit schneller abgeklungen.

Wenn unterdessen in die Hochschulen der neuen Bundesländer weitgehend Normalität eingezogen ist, dann haben hierzu ohne Zweifel wesentlich zahlreiche institutionelle und private Hilfsaktionen aus den alten Bundesländern beigetragen. Genauer betrachtet setzten sie schon vor 1989 ein. Die Initiatoren dieser Aktivitäten waren meist einzelne Fachkollegen aus dem westlichen Teil Deutschlands, die sich über die Jahrzehnte hinweg das Bewusstsein von der Zusammengehörigkeit bewahrt und über die reale Situation im Osten auf dem Laufenden gehalten hatten. Tatsächlich waren die (von der SED stets misstrauisch betrachteten) persönlichen Beziehungen vor 1989 für die Wissenschaftler im Osten ein wichtiges Vehikel der Ermutigung zum inneren Widerstand und eine gute Starthilfe für den Neuanfang. Einige Beispiele mögen das illustrieren.

Als 1987 die DMG-Jahrestagung in Clausthal-Zellerfeld stattfand (Tagungsleiter Brehler; Vorsitzender W. Hoffmann), hatte das Organisationskomitee ein "Will-Kleber-Symposium" in der zutreffenden Annahme vorbereitet, dass sich die zuständigen Reisequotenstrategen im Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen der DDR dadurch herausfordern lassen würden, mehr als einen Vertreter aus dem Osten die Teilnahme (ohne finanzielle Unterstützung) zu erlauben. Die Rechnung ging auf. Es war vermutlich die größte Zahl ostdeutscher Teilnehmer seit deren verordneter förmlicher Distanzierung von der DMG, und es gab viele wichtige Verabredungen für weitere gemeinsame Vorhaben. Zugleich war das ein Zeichen des wachsenden Druckes auf der Ebene der DDR-Wissenschaftler in Richtung Normalisierung.

Für gewöhnlich war während internationaler Tagungen auch im Ostblock persönlicher Kontakt zu ‚Bürgern der BRD‘ untersagt. Als im August 1989 die Europäische Kristallographentagung ausgerechnet im perestroikainfizierten Moskau stattfand, kümmerte sich schon niemand mehr um derlei Vorschriften. Vielmehr verfolgte man gemeinsam die spannenden Nachrichten über die Flüchtlingsströme in Ungarn mit den bekannten Folgen für den Eisernen Vorhang.

Noch bevor in Leipzig auf den Transparenten aus ‚Wir sind das Volk‘ dann ‚Wir sind ein Volk‘ wurde, waren bereits Vorbereitungen für eine Ost-West-Winterschule über Raumgruppen im thüringischen Döschnitz getroffen. Sie wurde dann auch in einer sehr angeregten Atmosphäre von Th. Hahn (Aachen) und H. Wondratschek (Karlsruhe)
speziell für junge Wissenschaftler aus der DDR in der März-Woche 1990 vor den ersten fr
eien Volkskammerwahlen durchgeführt.

Nach der Wahlentscheidung für den Beitritt setzten dann auf verschiedenen Ebenen Vorbereitungen für die Öffnung der bundesdeutschen Förderinstrumente für die Wissenschaft nach Osten ein. Besonders schnell und wirksam konnte der Fonds der Chemischen Industrie (FCI) mit seiner ‚ad-personam‘-Förderung helfen, die als Muster für die Idee des Vertrauens in die Person des Geförderten gelten kann. Bereits 1990 wurde das
System der Vertrauensdozenten des FCI auf die ostdeutschen Hochschulen ausgedehnt und damit erreicht, dass Förderung auch und vor allem jenen Fachkollegen zuteil werden konnte, die bis dahin aus politischen Gründen über eigene Mittel nicht verfügen durften. Die psychologische Wirkung eines eigenen DM-Kontos für Lehre und Forschung, bei dessen Verwendung weder der Dienstvorgesetzte noch der SED-Parteisekretär Mitspracherecht hatten, war naturgemäß mindestens ebenso viel wert wie die materielle und führte zu einer ersten Lockerung der über Jahrzehnte gewachsenen hierarchischen Beziehungen in den Einrichtungen. Das Bewusstsein, fachliche Leistung lohne sich am Ende doch und könne nicht durch politische Aktivität substituiert werden, förderte eine bis dahin unbekannte Aufbruchstimmung. Und als im Herbst 1990 Vertreter des FCI
(v. Schnering, Müller-Buschbaum) durch die neuen Bundesländer reisten und nach Inspektion der Verhältnisse vor Ort Soforthilfen in Gestalt von Workstations etc. nach westlichen Leistungskriterien austeilten, wurde damit ein vielbeachtetes Zeichen tatkräftiger Hilfe für die Hochschullandschaft im Osten gesetzt.

Für die Mineralogen Deutschlands wurde die 68. Jahrestagung in Würzburg im September 1990 (Tagungsleiter M. Okrusch/E. Tillmanns; Vorsitzender G. Friedrich) zu einem besonderen Ereignis, denn die Fachkollegen aus dem Osten konnten erstmals ohne Valutaprobleme und daher in weit größerer Zahl teilnehmen als in den Jahrzehnten zuvor. Viele nutzten die Gelegenheit zum (Wieder-)Eintritt in die DMG. Die Mitgliederzahl stieg zwischen 1989 und 1992 um 177 und erreichte im Jahre 1992 ihren vorläufig höchsten Wert. Die ersten Vertreter aus dem Osten wurden in Gremien der DMG gewählt. Anders als Gesellschaften wie DGG, DPG oder GDCh hatte die DMG kein direktes Pendant im Osten. Das Zusammenwachsen konnte sich deshalb einfach auf dem Wege des individuellen Beitritts zur bestehenden Gesellschaft und damit wesentlich schneller als bei anderen Fachgesellschaften vollziehen.

Zeitlich parallel begannen auch andere Institutionen wie z.B. die Deutsche Forschungsgemeinschaft, der Deutsche Akademische Austauschdienst und die Volkswagenstiftung ihre Förderprogramme stufenweise auf die neuen Bundesländer auszudehnen. Die uneingeschränkte Anwendung dieser Instrumente konnte dann allerdings erst nach der personellen Erneuerung der Hochschulen 1992/93 in Gang kommen.

P. Paufler, Dresden

(Anm. d. Red.: Teil II folgt im nächsten Heft, Nr. 79, Juli 2000, dieser Mitteilungen)