Blick zurück

III. Zur Sprache gebracht. (Schluss)

Wenn auch in beiden Teilen Deutschlands während der vierzigjährigen staatlichen Trennung nominell die gleiche Sprache gesprochen und geschrieben wurde und diese Gemeinsamkeit naturgemäß eines der wesentlichen Vehikel des Annäherungsprozesses 1989 bis1990 bildete, gab es doch politisch getriebene Unterschiede, deren Abbau langsam verlief und teilweise noch andauert. Für Linguisten bleibt das ein interessantes Betätigungsfeld. Das Wissen darum kann aber auch für Normalverbraucher von wechselseitigem Vorteil, ja von Reiz sein: ‚Wahrhaftig, du bist auch einer von denen, denn deine Sprache verrät dich‘(Matthäus 26,73).

Das Auseinanderdriften begann genau genommen bereits 1945 unter dem Einfluss der Alliierten, d.h. infolge des nahezu übermächtigen Drucks des Englischen im Westen und des Anspruchs der Kommunisten auf machtpolitisch begründete Sprachregelung in allen Bereichen des Lebens im Osten. Die ‚lingua tertii imperii‘ wurde im Osten von der ‚Neusprache‘ des ‚Großen Bruders‘ abgelöst. Sprachgewohnheiten von vor 1945 haben sich indessen, sofern sie nicht als ideologisch bedenklich galten, im Osten im Schatten des Eisernen Vorhangs lange erhalten können.

Wir klammern hier den unmittelbar politischen Bereich aus, wenn wir im Folgenden das Geschehen an einigen Beispielen erläutern wollen. Denn erstens wurde auf diesem Feld durch den Beitritt der DDR zum Grundgesetz vielen Begriffen der Boden für weiteren Gebrauch entzogen und zweitens ist der politische – auf den Schriften von Marx, Engels, Lenin und Stalin fußende – Wortschatz viel zu umfangreich für eine kurze Reminiszenz. (Wenige Journalisten und Schriftsteller benutzen indessen ausgewählte Termini davon noch heute und bestätigen so das Matthäus-Wort.)

Selbst die folgenden Beispiele für Sprachgebrauch Ost (O) und West (W) aus dem nicht unmittelbar politischen Bereich ließen sich leicht verzehnfachen. Bei der Integration von DDR-Wissenschaftlern in gesamtdeutsche Förderprogramme löste in Gremien der Wissenschaftsorganisation bei Westdeutschen der Begriff ‚moralisch verschlissen‘ (O) ungezwungene Heiterkeit aus, der in der Verwaltungssprache Ost in Wort und Schrift verwendet wurde, um das dem Sozialismus definitionsgemäß nicht angemessene Attribut ‚technisch veraltet‘ (W) zu ersetzen. Älteren Kollegen (O) rutscht er wohl gelegentlich noch heute heraus, bewusst wird er nicht mehr gebraucht. Umgekehrt wunderte man sich im Osten über die Prozentpunkte‘ (W), die neben den ‚Prozenten‘ (O,W) verwendet werden. Bei Planerfüllungen bezog man sich in (O) ohnehin auf 100%, und Differenzen von Prozentzahlen wurden – wenn überhaupt – umschrieben (z.B. ‚Die Steuer sank von 20 auf 19 %‘). Im politischen und wirtschaftspolitischen Sprachgebrauch (O) sind die Prozentpunkte nun auch integriert.

Vortragende (O) bedienen sich seit rund zehn Jahren des Overheadprojektors (W) statt des Tageslichtschreibers oder des Polylux[Markenname] (O). Dieses Beispiel steht für Gegenstände, die ihren Namen mit der Ware importiert haben. Die benötigten Folien werden inzwischen häufiger fotokopiert oder kopiert (W) als xerokopiert (O). Der Bezug auf das Xerox-Patent war im Osten ein zweckmäßiges Unterscheidungskriterium gegenüber den nasschemischen Fotokopien oder den unsäglichen Thermokopien. Die Xerox-Geräte blieben übrigens aus Angst vor unzensierter Vervielfältigung lange Zeit unter Verschluss und waren von daher auch etwas Besonderes.

Mit derlei Demonstrationsmaterial ausgerüstet verrät dann der Vortragende (W) auch heute noch seine Herkunft mit der Floskel ‚Wir sind hingegangen und haben die Temperatur gemessen‘ während sein Kollege (O) erklärt ‚Dann haben wir die Temperatur gemessen‘.

Nahezu unerschöpflich sind Beispiele für Anglismen, die – zunächst am Eisernen Vorhang aufgestaut – sehr schnell den Osten überflutet haben und dort ebenso (hilflos) argwöhnisch betrachtet werden wie zuvor im Westen. Neben diesen Anglismen haben sich verdeckte Formen englischer Denk- und Sprechweise übertragen, ‚weil das gilt als modern‘. Ein hierher gehörendes Exempel mit möglicherweise fatalen Folgen für die Gesprächspartner war die Vereinbarung eines Treffens um viertel vier (O) [= Viertel nach drei (W)] oder um drei viertel vier (O) [=Viertel vor vier(W)]. Der Partner (W) war im ersten Fall entweder 15:45 h oder 16:15 h am Treffpunkt, je nachdem, ob er die Zeitangabe in Gedanken mit ‚vor‘ oder ‚nach‘ ergänzt hatte, während der andere (O) schon 15:15h eintraf und womöglich schon wieder gegangen war. Dass der Partner (W) weder ‚halb nach drei‘ noch ‚halb vor vier‘ sondern wie der (O) ‚halb vier‘ verwendet, deutet auf Reste der Sprache von vor 1945. Aus dieser Sicht war es geschickter, sich für halb vier (O,W) oder gar erst für um vier (O,W) zu verabreden. Inzwischen ist das Problem wohl erkannt und die Gesprächspartner stellen sich aufeinander ein. In diesem Fall ist eine flächendeckende Anpassung des Ostens wegen starker regionale Verwurzelung nicht so schnell zu erwarten. ‚Es macht keinen Sinn, derlei Unterschiede beseitigen zu wollen‘ könnte der Leser (W) meinen, während sein Analogon (O) bestätigt, dass so etwas ‚keinen Sinn habe‘.

Wo Verwaltungsstrukturen (O) und (W) deutschlandweit zusammengefügt wurden, mussten auch formelhafte Wendungen angeglichen werden. Beispielsweise ‚kommen die Züge (O) nicht mehr zur Abfahrt‘ (Reichsbahndeutsch), sondern sie ‚fahren ab‘, wenn auch oft mit der anscheinend systemunabhängigen Verspätung.

Ein oft zitiertes Kuriosum politischer Sprachregelung aus der Verwaltungssprache des Alltags (O) ist naturgemäß von einem Tag zum anderen verschwunden, da es nie Eingang in die gesprochene Sprache gefunden hatte. Nach alter Gewohnheit bringt nämlich der profane Weihnachtsmann (O) (als nichtbiblische Erscheinung auch von den SED-Ideologen akzeptiert) nun wieder die (biblischen) Weihnachtsengel anstelle der ‚Jahresendfiguren mit Flügeln‘, und das womöglich dem Personal (früher den Werktätigen (O)) oder der Abteilung (früher der Brigade(O)) zur Weihnachtsfeier des Instituts/der Firma (die zu DDR-Zeiten nur ‚Jahresabschlussfeier‘ sein konnte). Vielleicht verteilt er sie auch an die lieben Kleinen in den Weihnachtsferien (früher ‚Ferien zum Jahreswechsel‘ (O)). Wenn besagter Weihnachtsmann seine Sprüche nicht sorgfältig überlegt hat, könnte er anschließend vom Personalchef (W) der Firma wie früher vom Kaderleiter (O) in dessen Büro (W) (bzw. Zimmer (O)) streng befragt werden. Die ‚Jahresendfigur mit Flügeln‘ steht auch beispielhaft für schwülstige Wortschöpfungen, die vom Kern der Sache ablenkten (oder wie es Orwell nennt ‚Gedankenverbrechen verhindern‘), zum starken Auseinanderklaffen von Wort und Schrift und schließlich – nach jahrelanger Praxis – auch zu verschlungener Denkweise führen konnten.

Erstaunlich wenig sind die sprachlichen Gewohnheiten Silvester zu begehen durch die Teilung verändert worden. Ein zu vermutender sowjetischer Einfluss war im Osten praktisch nicht vorhanden. Weder tanzte man dort um die Neujahrstanne, noch gratulierte und beschenkte man sich zum neuen Jahr, wie es die Russen noch heute tun. Es sollte also sprachlich keine Probleme bereitet haben, zum Jahreswechsel in gemeinsamer Runde auf die Vollendung des Einigungsprozesses anzustoßen.

P. Paufler, Dresden

paufler@physik.tu-dresden.de